Erik Brühlmann
Garant für Winterenergie
Die Windenergie hat in der Schweiz einen schweren Stand. Dabei bietet sie als Ergänzung zu anderen erneuerbaren Energiequellen Vorteile, die sich nur sehr schwer wegdiskutieren lassen.
In der Schweiz wurden 2023 rund 169 GWh Strom mit Windanlagen produziert, so viel wie noch nie zuvor. Damit deckt die Windenergie derzeit etwa 0,3 Prozent des heimischen Strombedarfs. Auch das ist ein Rekord, jedoch ein negativer. Denn im europäischen Vergleich belegt die Schweiz damit abgeschlagen den letzten Rang. Angesichts dieser Zahlen scheinen die energiepolitischen Ziele des Bunds verwegen, wenn nicht geradezu vermessen. Geht es nämlich nach der offiziellen Energiestrategie, soll Windenergie 2050 7 Prozent des Strombedarfs decken. Laut einer Studie, die das Bundesamt für Energie BFE 2022 veröffentlichte, liegt das Windpotential der Schweiz gar bei 29 TWh – 29 000 GWh oder 171-mal mehr, als derzeit produziert wird. Zum Vergleich: Das Kernkraftwerk Gösgen produziert rund 8 TWh Strom pro Jahr.
Schneller bewilligen
Sind die Zahlenspielereien des BFE realistisch oder vom nachhaltigen Prinzip Hoffnung getragen? Für Anita Niederhäusern, Medienverantwortliche der Schweizerischen Vereinigung zur Förderung der Windenergie Suisse Eole, gibt es wenig Grund, an den Zielen des Bunds zu zweifeln. «Die Projekte dafür sind jedenfalls da», sagt sie. «In naher Zukunft wird es einen Ruck hin zur Windenergie geben.» Eine solche Entwicklung möchte der Bund mit einer Anpassung der Energieverordnung, die per 1. Februar 2024 in Kraft trat, unterstützen. Denn ein grosser Bremsklotz für die Realisierung von Windanlagen ist der lange Weg von der Idee bis zum fertigen Projekt. Er kann durchaus 20 Jahre lang dauern. Dies soll sich mit der Änderung des Artikels 71c des Energiegesetzes ändern. Der sogenannte Windexpress beschleunigt Bewilligungsverfahren bei Projekten von nationalem Interesse, die über einen rechts-kräftigen Nutzungsplan verfügen. Für solche Anlagen muss der Kanton die Baubewilligung erteilen, der Rechtsweg gegen die Baubewilligung wird auf eine kantonale Instanz eingeschränkt, und Beschwerden ans Bundesgericht sind nur bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zulässig. Vom Windexpress profitieren schweizweit nur wenige, weit fortgeschrittene Projekte.
Die Stärke liegt im Winter
Der Windenergie einen rechtlichen roten Teppich auszurollen, ist nach Ansicht von Anita Niederhäusern durchaus sinnvoll. «Die grosse Stärke von Windanlagen ist, dass sie durchschnittlich zwei Drittel des Stroms im Winter produzieren», erklärt sie, «also genau dann, wenn Solar- und Wasserenergie ihre Schwächen haben.» Es sei deshalb überhaupt nicht sinnvoll, Solaranlagen gegen Windanlagen ausspielen zu wollen. Für eine nachhaltige, ganzjährig gesicherte Energiezukunft sollten alle erneuerbaren Energiequellen nebeneinander genutzt werden. Denn wenn Windanlagen Winterstrom produzieren, bleiben die Speicherseen der Wasserkraftwerke in der kalten Jahreszeit länger gefüllt, und Engpässe werden unwahrscheinlicher. Diese Ansicht bestätige auch Christophe Ballif, Professor für Photovoltaik und Dünnfilmelektronik an der École polytechnique fédérale de Lausanne EPFL: Sinngemäss führt er aus, dass eine Kombination aus Solar- und Windenergie zusammen mit dem Einsatz von Autobatterien als kurzfristige Energiespeicher in etwa dieselbe Bandenergie bereitstellen wie Kernkraftwerke. Als Beispiel dafür, dass Windanlagen akzeptiert werden, wenn die Bevölkerung damit Erfahrungen gemacht hat, führt Anita Niederhäusern den 2002 errichteten und damals europaweit höchstgelegenen Windpark Gütsch bei Andermatt (UR) ins Feld. Über die Jahre wurde der Windpark ausgebaut, er zählt zurzeit vier Anlagen. «Geplant ist, drei der kleinen Anlagen zu repowern, also durch leistungsstärkere Anlagen mit längeren Rotorflügeln zu ersetzen, und drei neue hinzuzufügen», erzählt Anita Niederhäusern. «Danach kann die Region 80 Prozent des Stromverbrauchs mit regional produziertem Windstrom decken.»
Zu klein? Zu windstill?
Gegner der Windenergie führen gern ins Feld, dass die Schweiz zu klein sei, um Windenergie effizient im grossen Massstab nutzen zu können. Dass hierzulande zu wenig nutzbarer Raum für Anlagen in der Grössenordnung der Off-Shore-Windparks vor den Küsten Deutschlands oder Englands oder der On-Shore-Anlagen Norddeutschlands vorhanden ist, versteht sich. «Aber nehmen wir das Saarland als Vergleich», kontert Anita Niederhäusern. «Das deutsche Bundesland ist etwa eineinhalb Mal so gross wie der Kanton Freiburg, mit einer ähnlichen Bevölkerungsdichte. Dort werden 200 Anlagen betrieben.» Ähnlich sieht die Situation im Bundesland Rheinland-Pfalz aus, das in etwa die Grösse des Schweizer Mittellands hat. «Neu sind dort etwa 1800 Windanlagen in Betrieb», weiss Anita Niederhäusern. Als letztes Beispiel nennt die Expertin Österreich, das doppelt so gross ist wie die Schweiz, aber 29-mal mehr Windanlagen betreibt. Liegt das vielleicht daran, dass die Schweiz, wie oft behauptet wird, einfach kein Windland ist? «Rund um die Schweiz tun heute über 8000 Windräder in Grenznähe ihren Dienst», sagt die Expertin, «und der Wind kennt bekanntlich keine Landesgrenzen ...». ? Der Windatlas des BFE weist die grössten Windpotentialgebiete aus. Sie befinden sich im Mittelland, im Jura, am Genfersee und in der Ostschweiz.
Es braucht Information
Da stellt sich die Frage, weshalb die Stimmung beim Thema Windenergie derart schlecht ist; weshalb fast jedes Projekt so sehr mit Einsprachen torpediert wird, dass eine Gesetzesänderung wie der Windexpress nötig wurde, um die Entwicklung vorantreiben zu können. Anita Niederhäusern vermutet, dass es zu einem Teil eine Frage der fehlenden Information sein könnte. Denn noch immer halten sich gängige Vorteile wie: «Ein Windrad allein bringt ja doch nichts!», «Dem halte ich entgegen: Das einzelne Windrad der Windanlage Haldenstein bei Chur produziert 10 Prozent des Haushaltsstroms der Stadt Chur», so die Expertin. Auch Bedenken bezüglich der Gefahr für die Tierwelt lassen sich leicht zerstreuen. Seit 2021 läuft zum Beispiel die Beobachtung der Vogelwelt rund um den Windpark Parco eolico des San Gottardo SA auf dem Gotthardpass. Die Anlage ist mit einem Antikollisionsradar ausgestattet, der Zugvögelschwärme erkennen kann und die Turbinen stoppt, wenn die Tiere vorbeiziehen. Und die Ansicht, dass Windräder die Landschaft verschandeln? Ein klassischer Fall der Not-in-my-backyard-Mentalität: Nachhaltigkeit ist wünschenswert, aber bitte nicht so, dass sie einen selbst irgendwie einschränkt. Ausserdem könne man Windanlagen durchaus zu einem Asset einer Gemeinde machen. «In Andermatt werden Führungen im Windpark angeboten, und diese werden von Touristen rege genutzt», sagt Anita Niederhäusern.
Zehn Jahre gute Dienste
Das Zentralschweizer Energieunternehmen CKW betreibt mit der Windanlage Lutersarni im Entlebuch seit über zehn Jahren eine Turbine, die 640 Haushalte mit Strom beliefert. Die Betreiber sind mit der Anlage äusserst zufrieden. «Die Turbine wird dreimal im Jahr gewartet, einmal mussten wir einen Motor, der das Windrad in den Wind ausrichtet, ersetzen», sagt Franco Castelanelli, Projektleiter neue Energien der CKW. «Ansonsten war der Betrieb absolut reibungslos.» Lutersarni lag in den zehn Betriebsjahren insgesamt 20 Prozent über den erwarteten Leistungen, mindestens 15 weitere Jahre soll die Anlage noch in Betrieb bleiben. Danach gibt es die Optionen Weiterbetrieb, Repowering oder Rückbau. «Momentan werden Rotorblätter geschreddert und thermisch verwertet», sagt Franco Castelanelli. «Man ist jetzt aber dabei, Methoden zu entwickeln, mit denen man die Verbundstoffe separieren kann, um sie wieder in neuen Turbinen verbauen zu können.» Der Turm selbst besteht hauptsächlich aus Stahl, das Fundament aus armiertem Beton. Beides ist vollständig rezyklierbar. «Aus unserer Sicht sind Windanlagen absolut tauglich für die Kreislaufwirtschaft.»
Transparenz ist wichtig
Für die CKW hat Windenergie so viel Potential, dass das Unternehmen fünf weitere Windparks im Kanton Luzern und im angrenzenden Kanton Aargau plant, mit denen im Vollbetrieb über 140 GWh Strom produziert werden könnten. Die Windanlage Lutersarni zeigte deutlich die Stärken dieses Energieträgers: Rund zwei Drittel des Stroms wurden im Winter sowie nachts produziert – also dann, wenn Photovoltaikanlagen nicht oder nur sehr reduziert produzieren können. «Wir setzen uns deshalb dafür ein, die beiden Energieträger nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie nebeneinander zu entwickeln», so Franco Castelanelli. Die Situation im Kanton Luzern macht dies durchaus möglich. Das Energiegesetz verpflichtet alle Kantone, für Windanlagen geeignete Gebiete zu bezeichnen. Nicht überall geht dieser Prozess gleich schnell voran. Der Kanton Luzern übernimmt in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle. Der Kanton schied bereits auf Stufe Richtplan Windgebiete unter Berücksichtigung von 50 Kriterien aus. Dazu gehören unter anderem die Entfernung zu Siedlungsgebieten und ökologische Aspekte. Die CKW auferlegte sich für mögliche Projektstandorte freiwillig weitere Einschränkungen. Franco Castelanelli: «Wir wollen zum Beispiel nach Möglichkeit keine Projekte in Waldgebieten planen, obwohl dies theoretisch zulässig wäre. Zudem wollen wir mindestens 300 Meter Abstand zu bewohnten Gebäuden halten, damit die geltende Lärmschutzverordnung sicher eingehalten werden kann.» Was die Stimmung in der Bevölkerung ebenfalls positiv beeinflusst, ist die absolute Transparenz, welche die CKW bei ihren geplanten Projekten an den Tag legt. Bestes Beispiel für diese Strategie ist die Website des geplanten Windparks Lindenberg, wo jeder nur denkbare Aspekt des Projekts offengelegt wird. Bei den aktuell im Kanton Luzern laufenden Projekten bietet CKW der Bevölkerung die Möglichkeit, über ein Webformular jederzeit Fragen zu stellen und Anregungen zu formulieren. In der Hoffnung, dass die Gegner neuen Projekten wie diesem nicht mit den alten, immer gleichen Argumenten den Wind aus den Rotorblättern nehmen.