Mobilität

22.10.2024
Erik Brühlmann

Der lange Weg zur autonomen Mobilität

Autos ohne Fahrer? Was in Science-Fiction-Filmen längst normal ist, ist in der Realität noch weit davon entfernt, alltäglich zu sein. Doch die Entwicklung schreitet schnell voran.

Schon seit vielen Jahren orakeln Zukunftsforscher, dass Fahrzeuge bald ohne Fahrerinnen und Fahrer auskommen und ihre Passagiere selbst sicher von A nach B transportieren werden. Zu sehen ist davon auf den Strassen der Schweiz jedoch noch kaum etwas. Anders in China. Die Regierung der Volksrepublik scheint ein grosses Interesse daran zu haben, die fahrerlose Zukunft voranzutreiben. Bereits haben verschiedene Unternehmen die Bewilligung bekommen, ihre autonomen Fahrzeuge im Verkehr zu testen. In Wuhan ist eine Taxiflotte namens «rasender Rettich» mit 300 fahrerlosen Fahrzeugen alles andere als fehlerfrei unterwegs. In 20 Städten des Landes werden zudem intelligente, vernetzte Strassen entwickelt, die mit Sensoren, Kameras und Übertragungssystemen dereinst mit den autonomen Fahrzeugen kommunizieren sollen. In den USA ist man ebenfalls schon einen Schritt weiter: In Phoenix (Arizona) betreibt die Firma Waymo eine Flotte von über 600 autonomen Fahrzeugen, die unter anderem als Taxiservice zum und vom Flughafen eingesetzt werden. In San Francisco dürfen seit 2023 ebenfalls fahrerlose Taxis Passagiere transportieren. Hat die Schweiz etwa den autonomen Anschluss verpasst?

 

Schweizer Grundlagenforschung

«Die Schweiz braucht sich im internationalen Vergleich nicht zu verstecken», findet Martin Neubauer, Strategischer Berater der Swiss Association for Autonomous Mobility SAAM. Der Verein ist die führende Plattform für autonome Mobilität in der Schweiz. Ihr gehören rund 30 namhafte Organisationen an – von AMAG über Planzer und SBB bis zu Swisscom, Siemens und der ETH. Schon die Existenz einer solchen Plattform verdeutlicht, dass autonomes Fahren auch hierzulande ein Thema ist. «Unsere Mitglieder wollen voneinander lernen, nicht miteinander in Konkurrenz treten», so Neubauer, «denn es geht um nichts weniger als um die optimale Gestaltung der Mobilität der Zukunft». Auch wenn, wie er einräumt, diese Zukunft enorme Investitionen erfordern wird. «Grundlagenforschung und Pilotprojekte sind das eine, die Umsetzung in einem Regelbetrieb und die Finanzierung von Unternehmen und Start-ups, die einen solchen Betrieb aufbauen können, etwas ganz anderes.» Diesbezüglich sind die USA klar im Vorteil, wo die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley enorme Summen investieren können und wollen.

 

Unter dem öffentlichen Radar

Trotz aller Bemühungen steht das Thema hierzulande kaum im Fokus der Öffentlichkeit. «Wir befinden uns in einer Übergangsphase vom Verbrenner über das Elektrofahrzeug zum autonomen Fahrzeug», erklärt Martin Neubauer. Das Augenmerk der grossen Automobilhersteller verschiebt sich erst allmählich von der Hardware zur Software, und auch die hiesige Gesetzeslage trug bisher dazu bei, dass die autonome Mobilität die Strassen und damit eine gewisse Sichtbarkeit noch nicht erreicht hat. Fahrzeuge ohne Lenkende waren bisher untersagt, das Lenkrad musste wortwörtlich stets in menschlicher Hand sein. Das soll sich in Zukunft ändern. Zurzeit sind nach einer Teilrevision des Strassenverkehrsgesetzes zwei Verordnungen in der Ausarbeitung. Eine regelt unter anderem Anwendungsfälle wie das Loslassen des Lenkrads während der Fahrt, das vollautomatisierte Einparken auf definierten Flächen und das vollständig automatisierte Fahren auf festgelegten Strecken, mit ausschliesslicher Bewachung eines Operators aus der Distanz. Die zweite Verordnung regelt die finanzielle Unterstützung innovativer Verkehrslösungen. Die Chancen, dass die Verordnungen Anfang 2025 in Kraft gesetzt werden, stehen nach Ansicht von Martin Neubauer gut. Aber wollen Lenkerinnen und Lenker das überhaupt? Und wollen Passagiere fahrerlos herumkutschiert werden? In San Francisco zum Beispiel sorgen «Robotaxis» immer wieder für Unmut in der Bevölkerung; Anfang dieses Jahrs wurde sogar eins von einer wütenden Gruppe in Brand gesteckt. Die Studie «Mobility of the Future» des Beratungsunternehmens Deloitte zeigt, dass auch in der Schweiz Vorbehalte herrschen: 64 % der Befragten gaben an, dass sie nur ungern die Kontrolle über das Auto abgeben und sich in einem autonomen Fahrzeug unwohl fühlen würden. «Man kann aber auch Umfragen zitieren, die genau das Gegenteil aufzeigen», gibt Martin Neubauer zu bedenken. Fragen zu diesem Thema sind vorderhand eben nur hypothetisch zu beantworten. «Man muss die Menschen langsam und schrittweise mit dem Thema vertraut machen», sagt Martin Neubauer.

 

Projekte am Start

Die Website der SAAM listet 24 abgeschlossene und noch laufende Projekte im Bereich autonomer Mobilität auf, darunter das erste fahrerlose Fahrzeug auf Schweizer Strassen, das 2015 von Swisscom in Zürich auf die Reise geschickt wurde. Längst nicht alle Projekte haben jedoch im eigentlichen Sinn mit Fahren zu tun. «Man denkt bei diesem Thema natürlich immer zuerst an Fahrzeuge», sagt Martin Neubauer, «doch sie sind nur ein Teil des Gesamtbilds. Ebenso geht es um gesetzliche Fragen, die nötigen logistischen Rahmenbedingungen – Ladung der Fahrzeuge, Depots, Unterhalt –, Studien zur Akzeptanz und vieles mehr». Das derzeit umfangreichste Projekt ist das EU-Projekt ULTIMO in Genf, bei dem eine Vielzahl von Schweizer Organisationen, darunter Transports Public Genevois (TPG), beteiligt ist. Es soll Grundlagen für den Aufbau wirtschaftlich tragfähiger öffentlicher Verkehrssysteme schaffen. Der Transportlogistiker Planzer wird im Herbst zusammen mit einem Schweizer Start-up einen führerlosen Kleintransporter für Fahrten zwischen der Planzer-Filiale Bern und definierten Umschlagplätzen in der Stadt Bern in Betrieb nehmen; ein nächstes Grossprojekt ist in Planung. «Mit den neuen Verordnungen wird es sicherlich bald auch weitere Projekte geben», ist Martin Neubauer überzeugt.

 

Zukunft Ridepooling

Martin Neubauer ist auch zuständig für die Entwicklung der autonomen Mobilität bei PostAuto. Als Pionier beschäftigt sich das Unternehmen bereits seit 2016 mit autonomer Mobilität. Von 2016 bis 2021 beförderten zwei Smart-Shuttles in Sion und Uvrier mehrere Zehntausend Personen; der Gepäckroboter Robi transportierte in Saas-Fee vier Monate lang Koffer und Taschen von Einheimischen und Touristen. Im Fokus stehen bei PostAuto aber auch autonome Rufbusse. «Automatisierte On-Demand-Systeme sind für uns eine spannende Möglichkeit, Orte bedienen zu können, die wir bisher noch nicht in unserem Netz haben», erklärt Martin Neubauer die Motivation hinter diesem Projekt. Der Fachbegriff für solche Angebote lautet automatisiertes Ridepooling: Per App, so die Idee, wird eine Fahrt mit einem autonomen Fahrzeug von A nach B gebucht. Sollte unterwegs eine andere Person nach B fahren wollen, wird sie automatisch angesteuert und kann zusteigen. Dies optimiert die Auslastung, verringert Leerfahrten und wirkt sich positiv auf den Leer-fahrten und Ticketpreis aus. «In diesem Prinzip liegt ein ernstzunehmender Business Case», ist Martin Neubauer überzeugt. Ein entsprechendes Projekt wird derzeit aufgegleist, spruchreif ist es jedoch noch nicht.

 

Wohin mit den Menschen?

Skeptiker wittern hier natürlich bereits eine etwaige Reduktion regulärer Postauto-Linien und die Wegrationalisierung von Fahrpersonal. Doch Martin Neubauer beruhigt. «Der Linienverkehr ist unser Kerngeschäft und wird es auch in Zukunft bleiben», versichert er. On-Demand-Dienste seien als eine Ergänzung und Erweiterung des bestehenden Angebots gedacht. Und die Chauffeure? «Zunächst muss man sehen, dass wir von einem fahrerlosen Linienverkehr noch sehr weit entfernt sind», sagt Martin Neubauer. «Und auch wenn es irgendwann mal so weit ist, bedeutet das ja nicht, dass kein Personal mehr im Betrieb gebraucht wird.» Es braucht immer Menschen im Hintergrund, zum Beispiel in den Depots, bei der Überwachung der Betriebsflotten, bei der Behebung von Störfällen, bei der Wartung und Reinigung und bei vielem mehr. «Der Beruf wird nicht wegfallen, sondern sich verändern», ist Martin Neubauer überzeugt. Er vermutet, dass dadurch sogar Arbeitsplätze geschaffen würden. «In dieser Entwicklung stehen wir jedoch noch ganz am Anfang. Da gilt es, noch viel Know-how aufzubauen.» Die bisherigen PostAuto-Projekte hätten auf jeden Fall bereits wertvolle erste Informationen und Einsichten gebracht.

 

Autonom am Rheinfall

Solche Einsichten zog der in Schaffhausen ansässige Verein Swiss Transit Lab STL, der als Kompetenznetzwerk intelligente Mobilität erlebbar macht, auch aus dem Betrieb der sogenannten Linie 12. Dieses Pilotprojekt aus den Jahren 2018 und 2019 umfasste einen selbstfahrenden Kleinbus, der in dieser Zeit rund 30 000 Passagiere zwischen Neuhausen am Rheinfall und dem Rheinfallbecken nach einem Fahrplan und als Teil des bestehenden ÖV-Liniennetzes des Kantons Schaffhausen transportierte. «Eine wichtige Erkenntnis von damals war zum Beispiel, dass die Technik des Fahrzeugs selbst ein ebenso wichtiger Faktor ist wie die Automation und die Software», sagt Andreas Kaiser, Projektleiter bei STL. Viele Stillstände erfolgten aufgrund technischer Probleme am Fahrzeug selbst und nicht wegen der Automatisierungstechnologie. Eine weitere Erkenntnis war, dass es kaum Menschen gab, welche die Linie 12 mehrmals nutzten, da sie an einem touristischen Hotspot eingesetzt wurde.

 

Erstes selbstfahrendes Dual-Mode-Fahrzeug der Schweiz

Für das Nachfolgeprojekt, STL Linie 13, das seit Ende April 2023 und noch bis Ende 2024 unterwegs ist, setzt man nun als erstes Projekt der Schweiz auf ein Dual-Mode-Fahrzeug – einen handelsüblichen, zugelassenen Toyota, der für einen automatisierten Betrieb modifiziert wurde und sowohl händisch als auch automatisch funktioniert. Die Automatisierungstechnologie stammt vom finnischen Start-up Sensible 4. «Das Unternehmen konnte zum Zeitpunkt der Evaluation als einziger Bewerber aufzeigen, dass ein Ganzjahresbetrieb möglich ist», erklärt Andreas Kaiser. Das Wetter kann für die autonome Mobilität nämlich zum grossen Spielverderber werden. Kaiser: «Algorithmen, welche die Fahrzeugumgebung analysieren, erkennen heute oft grosse Blätter, Hagelkörner oder Schneeflocken vor den Sensoren als Hindernis. Deshalb bringen sie den Wagen aus Sicherheitsgründen zum Stehen.» Der finnische Algorithmus konnte diese Herausforderung umgehen, ohne dabei die Verkehrssicherheit zu vernachlässigen. Denn jeder noch so kleine Unfall eines automatisierten Fahrzeugs wird nur allzu gern von den Medien aufgenommen und aufgebauscht – ungeachtet der Tatsache, dass es auch im normalen Personenverkehr auf Schweizer Strassen jeden Tag zu rund 50 Unfällen mit Personenschaden kommt. Dies bekam auch die STL-Linie 12 am Rheinfall zu spüren: Aus einem kleinen, von der Linie unverschuldeten Unfall mit einer Velofahrerin wurden grosse Schlagzeilen.

 

Projekt erfolgreich

STL-Linie 13 verkehrt von Mittwoch bis Samstag gratis zwischen Schaffhausen Bahnhof Nord und dem Entwicklungsareal Stahlgiesserei – ein Weg von hin und zurück rund 1600 Metern, die in 12 Minuten zurückgelegt werden. Die vom ASTRA erlaubten 30 km/h werden erreicht und stellen einen Geschwindigkeits-Meilenstein auf Schweizer Strassen dar. Trotzdem fühlt es sich langsam an. Ein Fahrer ist von Gesetzes wegen stets am Steuer. Muss er eingreifen – zum Beispiel, weil ein Warentransporter auf der Strasse steht und der Algorithmus nicht ohne Weiteres die Fahrspur verlassen kann –, besteht an der nächsten Haltestelle die Möglichkeit, die Automatik wieder übernehmen zu lassen. Aus Sicherheitsgründen fährt die Linie 13 nur ausserhalb der Stosszeiten. «Das und die kurze Strecke dürften mit ein Grund sein, dass die Passagierfrequenz nicht so hoch ist wie erhofft», sagt Andreas Kaiser. Einer der grösseren Dämpfer für das Projekt war, dass Sensible 4 mittlerweile Konkurs gegangen ist. «Das System läuft aber so stabil, dass wir bisher deswegen keine Probleme hatten und den Betrieb normal aufrechterhalten können», so Andreas Kaiser. Nur die geplanten technologischen Weiterentwicklungen sind nicht mehr möglich. Dennoch zieht Andreas Kaiser eine positive Bilanz: «Unsere Hypothese, dass ein Dual-Mode-Fahrzeug im Betrieb stabiler ist, hat sich vollumfänglich bewahrheitet», sagt er, «wir konnten bei wirklich jedem Wetter fahren, das Fahrzeug war sehr zuverlässig zu 97 Prozent im geplanten Betrieb verfügbar».

 

Autonomer Steintransport

Ende 2021 gaben der Baustoffhersteller Holcim Schweiz und Volvo Autonomous Solutions eine Zusammenarbeit bekannt, welche den Einsatz autonomer Fahrzeuge im Industriebereich vorantreiben soll. «Wir sehen in der Zement-, Kies- und Betonlogistik viel Potential, um unsere indirekten Emissionen zu senken», erklärt Nadia Bohli, Head Corporate & CSR Communications/Public Affairs, die Hintergründe für das Projekt. Konkret: «Die batterieelektrischen Dumper, die derzeit in unserem Kalksteinbruch Gabenchopf in Siggenthal getestet werden, sind nicht nur leiser und nachhaltiger, sondern auch sicherer als herkömmliche Dumper.» Letzteres auch deshalb, weil eben kein Fahrer bei einem etwaigen Unfall zu Schaden kommen könnte. Bei den Dumpern handelt es sich um Baumaschinen, die von Grund auf neu entwickelt wurden. Sobald sie mittels herkömmlicher Radlader beladen sind, machen sie sich von selbst auf den Weg zur Produktionsstätte, wo sie ihre Last zuverlässig abkippen. Danach fahren sie wieder zurück in den Steinbruch.

 

Herausfordernde Umgebung

Das klingt zwar einfach, ist jedoch technisch äusserst anspruchsvoll. «Im Vergleich zu herkömmlichen Baumaschinen handelt es sich bei den autonomen Dumpern um ein komplexes vernetztes System», sagt Nadia Bohli. Für die so wichtige Konnektivität konnte Holcim Schweiz Swisscom als Projektpartner gewinnen. Denn die Dumper müssen im Rahmen eines Verkehrsleitsystems ständig überwacht werden – und dies in einer anforderungsreichen Umgebung. «Der Steinbruch ist für die autonome Technik sehr anspruchsvoll», erklärt Nadia Bohli. «Es können Lücken im Funknetz auftreten, der GPS-Empfang kann schwach sein, und der Steinbruch selbst ist ein dynamisches Umfeld, das sich im Wochenrhythmus stark verändert.» Nachdem die Pilotprojekte nun erfolgreich abgeschlossen wurden, sollen noch in diesem Jahr bis zu 12 autonome Dumper in den Regelbetrieb gehen. Die Holcim-Ländergesellschaften in Europa und Nordamerika verfolgen das Projekt mit grossem Interesse. 


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